Der Ruf des Kutschers lässt dich aus deinem Dämmerzustand erwachen. Ob es Probleme gibt? Oder bist du bereits an deinem Ziel angekommen? Einen Moment später hält der Wagen abrupt an. Leises Schnauben der Pferde erklingt und draußen werden Schritte hörbar. Die Tür zu deiner Linken öffnet sich und das freundliche Gesicht deines alten Dieners Jerome lädt dich ein, auszusteigen. Deine rechte Hand greift nach dem Gehstock aus Ebenholz, welchen du auf einer deiner Reisen hast anfertigen lassen. Ein weiterer Kutscher, der Sohn des Älteren, greift dir unter den Arm, um dich zu stützen. Ächzend steigst du die zwei Stufen hinab und bist sichtlich froh, als deine glänzend polierten Stiefel wieder festen Boden berühren. Eigentlich reist du gerne mit der Kutsche, aber das Alter hat deine Muskeln steif werden lassen und die Straßen in dieser Provinz sind bei Weitem nicht die Besten.

 

 

Auf einen kurzen Dank lässt der junge Mann dich los und du streckst deinen Rücken einen Moment lang durch. Jeder einzelne Wirbel scheint zu schmerzen, doch dies ist bereits eine ganze Weile der Fall. Dich auf deinen Stock stützend, schaust du dich um. Die Kutsche ist vor einem großen, alten Haus stehen geblieben und du siehst deinen Kutscher an. ,,Ist es...?'' Du wagst kaum, es auszusprechen und der alte Mann kommt dir zuvor: ,,Ja, mein Herr, wir sind da.''

 

 

 

Dein Blick gleitet zum halbhohen Holzzaun, welcher das Anwesen von wilden Wiesen und Feldern abgrenzt. Ein Unterschied zwischen den verwilderten Ackerflächen und dem Vorgarten des Hauses ist jedoch nicht auszumachen. Selbst der Zaun hat wohl bereits bessere Zeiten gesehen. An einigen Stellen hängen zerstörte Holzlatten von den halb verrotteten Pfählen herab. Das niedrige Tor direkt vor deinen Füßen ist einen Spalt weit geöffnet und so betrittst du das Innere des Gartens. Einem Ruf deiner Kutscher, ob du begleitet werden möchtest, verneinst du, schließt dann das Tor hinter dir. Der gepflasterte Weg, auf welchem du stehst, ist durchsetzt von hartnäckigem Unkraut. Links und rechts von dir sprießen Gräser und Disteln dir bis auf Hüfthöhe entgegen. Ein gewisser Wehmut überkommt dich, als du über die grauen Steine schreitest. Das Klacken deines Gehstocks auf dem Weg begleitet dich.

 

 

 

Die alten Rosenbeete am Rande des Pflasters sind kaum noch zu erkennen. Hier und da leuchtet eine einsame, rote Blüte unter dem dichten Blassgrün der Gräser hervor. Zu deiner Linken kannst du die oberen zwei Drittel des alten, silbernen Springbrunnens sehen. Die zarte, kleine Elfe auf dessen Spitze ist von grünem und blauem Moos bedeckt. Der Krug in ihrer Hand deutet zwar nach unten, doch das breite Becken ist ausgetrocknet und das bereits viele Jahre lang. Mit Wehmut wendest du deinen Blick ab und gehst weiter voran. Dein Weg führt dich immer näher an die Fassade des einst prunkvollen Herrenhauses. Die roten, mittlerweile überwiegend grünen oder schwarzen Steine sind nach wie vor ordentlich an- und übereinander gereiht. Hinter den Fenstern, welche auf der unteren Etage von außen mit schwarzen Gittern versehen sind, ist es dunkel. Das Glas ist bereits fleckig. Du näherst dich der Tür und deine Finger streichen fast liebevoll über die nachtschwarze Klinke. Das dunkle Holz ist noch genau so widerstandsfähig wie damals. Deine Hand zittert leicht, als du daran denkst, diesen Griff aus kaltem Metall endlich herunter zu drücken. Verbissen sagst du dir, dass du nicht hierher gekommen bist, um einfach wieder umzudrehen und das Weite zu suchen. Du hast dich dafür entschieden und du wirst es tun. Also öffnest du die schwere Tür. Die Angeln ächzen leise und du wirfst einen Blick ins Innere.

 

Ein schmaler Gang liegt vor dir, dunkel und geheimnisvoll. Links an der Wand steht ein alter Schrank und auf dem Boden liegen einige Holzstücke, bedeckt mit einer dicken Staubschicht. Rechts führt eine weitere Tür in den Ostflügel des Anwesens, doch du gehst geradeaus weiter. Du trittst durch den breiten Rundbogen am Ende des Flures hindurch und vergisst für einen Moment lang das Atmen. Fliesenboden, staubbedeckt, aber nicht genügend in Mitleidenschaft gezogen, um dessen wahren Wert zu erkennen, breitet sich vor deinen Augen aus. Eine Treppe, unten etwas ausladender als oben, nimmt den größten Teil deines Sichtfeldes ein. Die Geländer sind aus dem gleichen Ebenholz gefertigt wie dein Gehstock und das Metallgewebe, welches Geländer und Stufen verbindet, ist zwar von der Zeit nicht verschont geblieben, zeigt aber dennoch wunderschöne, ineinander übergreifende Muster.

 

 

 

Die Treppe verläuft weiter nach links, biegt dann nach rechts ab und endet in einer Empore, welche sich bis zur Wand zieht. Die Wände sind bis zur Hälfte mit verblichenen, einst wohl blauen Holzlatten verkleidet. Du steigst die verstaubten Stufen hinauf, deine Schritte hallen von der hohen Decke wider. Oben angekommen öffnet deine Hand wie von selbst die nächste Tür. Schon beim Betreten des großzügigen Raumes wird dir warm ums Herz. Ein Geräusch, das dir so unendlich vertraut ist, erreicht deine Ohren: tick-tack, tick-tack. Es hörte sich an wie ein leises Klicken und dessen Echo hallt durch das Zimmer, reflektiert von den Wänden. Als deine Füße den alten, mit Laub und Erde bedeckten Dielenboden betreten, kannst du förmlich fühlen, wie deine Augen größer werden. Alles ist noch genau so wie damals. Rechts von dir hängt ein verstaubtes Gemälde: ein Stillleben in einem mit Gold überzogenen Rahmen. Darunter steht ein kleiner Tisch und auf diesem eine leere Vase. Die Blumen darin waren wahrscheinlich bereits zu Staub zerfallen.

 

Das Pochen deines Gehstocks auf dem Holzboden, sowie das Ächzen dessen unter deinen Füßen begleiten dich, als du den Raum durchquerst. Ein alter, aber wertvoller Teppich bildet den Mittelpunkt des Zimmers. Dort stehen zwei Dreisitzer und ein Sofa für zwei Leute in der Form eines ''U''s zueinander. Ein kleiner Kaffeetisch befindet sich zwischen ihnen und die zwei Tassen aus Porzellan, sowie die alte Kanne zeugen von einem überraschten Aufbruch der Hausbesitzer. Ein Stich fährt durch dein Herz: also hat der alte Wirt der kleinen Stadt Recht gehabt. Ein Kerzenständer liegt mitten im Raum, die Wachskerzen sind zerbrochen.

 

 

 

Plötzlich fällt die Tür, durch welche du vor wenigen Augenblicken noch den Raum betreten hast, mit einem lauten Knall zu. Ein Windzug ist spürbar und dein Blick wandert weiter. In der gegenüberliegenden Wand ist eine breite Fensterfront eingelassen. Durch das fleckige Glas hindurch kannst du den hinteren Garten erkennen. Die Tür zur häuslichen Terrasse steht offen und ist mit einem kleinen Haken an der Innenwand fixiert. Ein Schatten gleitet über dich hinweg, aufgeregtes Zwitschern dringt an deine Ohren und du siehst einer Rauchschwalbe nach, wie sie in der alten Eiche im Herz des Gartens verschwindet.

 

 

 

Es ist jedoch ein anderes Geräusch, welches deiner Aufmerksamkeit bedarf. Du bist so an es gewöhnt, dass es dir möglich ist, das ständige Tick-tack, Tick-tack aus deiner Wahrnehmung zu verbannen. Nun aber wendest du dich einer dunklen Ecke des Raumes zu. Mit jedem Schritt in diese Richtung wird das Ticken lauter. Bong! Bong! Du fährst erschrocken zusammen, jeder kleine Muskel in deinem Körper scheint sich zu verkrampfen. So schnell, wie es gekommen war, ist es auch wieder verschwunden. Verwundert und gleichzeitig erleichtert starrst du den Gegenstand vor dir an. Ein mannshoher Holzkasten überragt dich beinahe. Das geschliffene, dunkelbraune Holz fühlt sich glatt an, als du mit einem Finger darüber fährst. Der Sockel, auf welchem der Kasten steht, scheint immer noch stabil zu sein, als wäre Zeit und Alter ihm fremd. Das gilt auch für das Glasfenster in der Front: es ist von innen her nicht einmal fleckig. Hinter der Scheibe heben und senken sich vier goldene Gewichte und zwischen ihnen schwingt ein großes Pendel. Das Hin und Her hat dich schon als Kind fasziniert und tut es jetzt immer noch. Dein Blick wandert zur Scheibe darüber, welche mit den Zahlen 3, 6, 9 und 12 beschriftet ist: die Zeiger der Uhr sind stehen geblieben. Auf dem schwarzen Metall befindet sich eine zarte Staubschicht. Ein seltsames Gefühl kommt in deinem Inneren auf: einerseits scheint die Zeit in diesem Haus stehen geblieben zu sein, andererseits zeugt die Verwahrlosung nur davon, wie viele Jahre vergangen sind. Obwohl die Zeiger sich nicht mehr bewegen, schwingt das Pendel unermüdlich weiter. Du kannst es dir nicht erklären. Langsam drehst du dich wieder um und gehst zurück zu der Sitzecke inmitten des Raumes. Du setzt dich auf den Zweisitzer, dort war schon immer dein Platz gewesen. Dann lehnst du dich zurück und denkst an vergangene Zeiten.

 

 

 

Deine zwei älteren Brüder sind wenige Tage nach ihrem zwanzigsten Geburtstag in den Krieg gezogen. Eure Mutter hat es nie verarbeiten können, dass die Zwei nicht zurück kamen. Sie hat viel geweint, genau in diesem Zimmer. Du hast viel Zeit mit ihr verbracht, um sie zu trösten, oft, bis die Standuhr am Abend elf Uhr zeigte. Es war zwar lange her, aber du erinnerst dich, wie sie in deinen Armen lag, während die Zeiger unermüdlich über das Ziffernblatt strichen. Das laute Tick-tack hatte jeden ihrer Schluchzer begleitet. Natürlich gab es auch schöne Erinnerungen, wie etwa den Moment, als dein Vater nach Hause kam und vom lange ersehnten Ende des Krieges berichtete. Wie sehr ihr gehofft habt, dass nun Frieden herrschen würde und wie enttäuscht wart ihr, als nur wenige Jahre danach erneutes Plündern, Morden und Brandschatzen ausbrach.

 

Das Knallen von Pistolen und Kanonen begleitete deinen Schlaf und wenn es verstummte, dann war es das Ticken der Uhr, welches dich daran erinnerte, dass die Zeit nicht still stand. Die kurzen Jahre in Frieden waren so schnell vergangen, dass der Krieg beinahe unendlich schien. Nach wenigen Monaten schlechter Nachrichten von der Front hast du dich gegen den Willen deiner Eltern dazu entschieden, der Armee beizutreten. Du wolltest deine Heimat beschützen. Noch ganz genau erinnerst du dich an das Flehen und Weinen deiner Mutter, sowie an den leeren Blick aus den glanzlosen, traurigen Augen deines Vaters. Du hattest ihnen versichert, dass du nur ein Jahr fort sein würdest, doch du konntest nicht wissen, was geschehen würde.

 

 

 

Während eines Gefechts warst du schwer verwundet worden. Nach der Schlacht hatten Feinde dich aufgelesen, schwach atmend unter einem Haufen von Leichen vergraben. Du dachtest, dein Ende sei gekommen, doch sie trugen dich hinter ihre eigenen Truppen. Du wurdest von ihnen versorgt und hast überlebt. Dein zertrümmertes Knie ist das Einzige, das dich noch an diese Zeit erinnert. Seitdem kannst du nicht mehr ohne Stock gehen, dein rechtes Bein ist steif geblieben. Doch immerhin hast du es überlebt. Deine Retter ließen dich unter ihnen leben, du hast Freunde gefunden und bist auf ihrem Land geblieben, auch, wenn der Krieg lange vorbei war. Arbeit und schlussendlich auch die Liebe haben dich dort gehalten, du hast eine kleine Familie gegründet. Sicher hättest du jederzeit in dein altes Zuhause zurückkehren können, doch du warst zu feige dafür, deinen Eltern gegenüber zu treten. Du wolltest ihnen nicht von diesem Sofa entgegen schauen müssen, das Ticken der Uhr im Hintergrund: ein Zeichen dafür, wie viel Zeit vergangen war.

 

 

 

Jetzt, wo deine Kinder eigene Familien haben und deine Frau verstorben ist, hast du begonnen, durch die Länder zu reisen. Du wolltest nichts mehr mit deinem Fleisch und Blut zu tun haben. Einer deiner Söhne hat vor wenigen Jahren zugelassen, dass dessen Schwiegervater im Fluss ertrank. Du hast diesen Mann sehr geachtet, ihr wart Freunde. Deshalb hast du deinem Sohn nie verziehen, obwohl dieser ihn gar nicht hätte retten können, denn er war schließlich nicht in der Lage zu schwimmen. Trotzdem hast du ihm die Schuld daran gegeben. Daraufhin hat sich deine Familie zerstritten und du hast dich entschieden, zu gehen. Dies ist das Ende dieser Reise, du hast es lange genug hinausgezögert. Der Wirt des kleinen Städtchens war recht wortkarg gewesen, hatte gemeint, die Besitzer des Herrenhauses wären zwei Jahre nach Aufbruch ihres letzten Sohnes in ein Gefecht aus Kriegsgegnern und der Armee geraten. Dabei waren sie gefangen genommen und getötet worden, da sie einer Gruppe verletzter Rebellen Unterschlupf gewährt hatten.

 

 

 

Ein weiteres Schlagen der großen Uhr bringt dich dazu, aus deinen Erinnerungen zurückzukehren und die Augen zu öffnen. Du blinzelst kurz, dann stehst du schwerfällig wieder auf. Auf deinen Stock gestützt verlässt du den Raum über die offene Tür und betrittst die von Moos und Kletterpflanzen überzogene Terrasse. Obwohl es mitten am Tag ist, wirkt der Garten sehr dunkel, düster und abweisend. Die zu Lebzeiten der Hausherren in Form gehaltene Hecke wuchert in alle Richtungen und bildet einen Übergang vom gepflasterten Teil vor der Treppe zu den ehemaligen Blumenbeeten. Du bewegst dich vorsichtig die Stufen hinunter, denn diese sind nass und rutschig. Der weiße Marmor schimmert grünlich unter deinen Schuhsohlen. Das aus Stein gefertigte Geländer zu beiden Seiten hat einige Sprünge, genau wie die Treppe selbst.

 

 

Ein Schatten springt so plötzlich aus den Tiefen der Hecke, dass dir beinahe das Herz stehen bleibt. Dann siehst du die kleine Gestalt verschwinden: eine schwarze Katze. Bedacht atmest du ruhig ein und aus, dann schlägst du den gepflasterten Pfad zu deiner Rechten ein, vorbei an der Hecke und den Blumenbeeten. Lange musst du nicht suchen, bis du dein Ziel findest: ein gewaltiger Kirschbaum, der Schatten spendet, steht dort. Zwar ist es relativ warm an diesem Tag, trotzdem fröstelt es dir. Dieser Ort hat eine seltsame Wirkung auf dich. Dein Blick gleitet zu der breiten Holzbank, welche wie schon vor vierzig Jahren an ihrem angestammten Platz steht. Zwar sieht das Holz dunkel und morsch aus, aber du setzt dich trotzdem für einen Moment. Dann wird dir etwas Anderes vor Augen geführt. Zuerst fühlst du dich wie gelähmt, dann stehst du langsam auf. Vorsichtig, als könntest du irgendetwas durch hektische Bewegungen zerstören, setzen sich deine Füße abwechselnd voran. Im Vorbeigehen brichst du die Blüte einer der letzten Rosen in diesem Garten ab und gehst in die Knie.

 

Zwei Kreuze aus Stein ragen aus der von Unkraut überwucherten Erde: das Grabmal deiner Eltern. Mit zitternder Hand legst du die Blume zwischen die Kreuze, senkst den Kopf und flüsterst leise ein Gebet. Als du dich mühsam wieder aufrichtest, schimmern Tränen in deinen blass-blauen Augen. Wortlos wendest du dich ab und gehst durch den Garten zurück ins Haus.

 

 

 

Nachdem du die Tür zur Terrasse geschlossen hast, durchquerst du noch einmal dein ehemaliges Zuhause. Es ist deine Schuld, deine Eltern hätten noch lange leben können. Du hättest sie beschützen müssen. Doch du wusstest es nicht besser und es ist dir nicht möglich, die Zeit zurück zu drehen. Einen letzten Blick schenkst du noch der Standuhr, lauschst ein letztes Mal ihrem lauten, kraftvollen Tick-tack, tick-tack. Dann steigst du die Empore hinab. Draußen wartet dein Kutscher und auf seine Frage, ob alles in Ordnung sei, antwortest du mit einem leichten Lächeln und einem angedeuteten Nicken.

 

 

 

Es scheint dir, als würde das Ticken der Standuhr noch meilenweit zu hören sein. Selbst das Ruckeln der Kutsche vermag nicht, dieses Geräusch in deinem Kopf zu übertönen. Es erinnert dich daran, dass du vermutlich nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt übrig hast. Jede Stunde, welche dir noch bleibt, würdest du nun mit deiner Familie verbringen, das schwörst du dir.

 

Jede einzelne Sekunde ist wertvoll. Du weißt, dass die Zeit glücklicher Tage schneller vergeht als die in Trauer und Angst. Gerade deshalb musst du es genießen, bei deinen Kindern und Enkeln zu sein, denn du weißt nie, ob es nicht vielleicht die letzte Gelegenheit ist. Noch ist es nicht zu spät.