Er wachte wie gewohnt früh auf. Sein Blick glitt zum Fenster neben seinem Bett. Die Jalousie war nicht heruntergelassen, wie immer. Schließlich brauchte er sie nicht: seine Arbeit begann früh am morgen, wenn es noch dunkel war und endete, wenn die Nacht sich erneut über die Kleinstadt gelegt hatte. Außerdem hatten die Fäden sich irgendwo verfangen und so ließ die Jalousie sich nicht mehr bewegen. Stören tat ihn dies jedoch nicht. Lediglich die Lichter der vorbeifahrenden Autos streiften ab und zu das Innere seines Schlafzimmers.

Ächzend bewegte er seinen Körper in Richtung der Bettkante und setzte sich auf. Müde fuhren seine Hände durch seine Haare. Sie wirkten schon wieder fettig. Er sollte duschen gehen. Also erhob er sich langsam und das Tappen seiner bloßen Füße auf den Bodenfliesen hallte in seinen Ohren nach. Es war kalt. Hatte er wieder vergessen zu heizen? Manchmal fragte er sich, warum kein automatischer Temperaturregler in seiner Wohnung eingebaut war. Dann beschlich ihn ein ungutes Gefühl und sein Gehirn antwortete stets damit, dass er sich solch einen Luxus nicht leisten konnte. Beziehungsweise war er nicht der Meinung, sein Geld für so etwas Unwesentliches ausgeben zu müssen.

Langsam setzte er seinen Weg in Richtung Bad fort. Beim Durchqueren des Flurs drang leise Musik an seine Ohren. Seine Nachbarin war von ihrem Freund verlassen worden und seitdem saß sie in ihrer Wohnung und hörte immer die gleiche CD; seit zwei Tagen und mittlerweile drei Nächten. Sie tat ihm Leid, die Arme.
Beinahe wäre er über einen der Kartons gefallen. Diese standen seit einiger Zeit im kleinen Flur. Er hatte noch keine Zeit gefunden, sie auszupacken und eigentlich brauchte er deren Inhalt auch gar nicht. Durch die 50:50 Güterteilung bei seiner Scheidung vor wenigen Wochen stand viel sinnloses Zeug in seiner Wohnung herum.
Er seufzte leise. Er sollte aufräumen. Vielleicht.
Dann erreichte er die Tür, welche in sein Bad führte. Nach Betätigung des Lichtschalters flackerte die kleine Röhre über dem Spiegel auf. Das Licht war bereits ziemlich schwach geworden.
Er sollte die Leuchtstoffröhre austauschen. Wenn er Zeit dafür hatte.

Langsam trat er an das Waschbecken und betrachtete sein Spiegelbild. Irgendwie sah er alt aus. Seine Augen strahlten nicht mehr in dem gewohnten Hellblau, sondern wirkten matt, beinahe grau. Die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln hatten sich vertieft, genau wie die Falten, welche seine Stirn horizontal teilten, wie Breitengrade auf einer Landkarte. Seine blassen Lippen waren rau und an einer Stelle aufgeplatzt. Manche sagten ihm, er trinke zu wenig. Mit einer Hand fuhr er sich über das markante Kinn.
Er sollte sich wieder einmal rasieren. Er mochte es nicht, diese Stoppeln auf seiner Haut zu fühlen. Doch sein Rasierer war noch immer kaputt.
Seine Haare waren eigentlich bereits viel zu lang und standen deshalb in alle Richtungen ab.
Vielleicht sollte er wieder zu einem Friseur gehen. Doch der, zu welchem er jahrelang gegangen war, hatte Insolvenz angemeldet und war bereits an eine große Kette verkauft worden. Und zu so einer Kette wollte er nicht.

Dann stieg er unter die Dusche. Eigentlich liebte er ausgiebige Bäder, doch in letzter Zeit fehlten ihm die Geduld und der Anreiz dazu. Außerdem war Wasser teurer geworden – um zwei Cent je Kubikmeter. Seit Neustem duschte er sogar kalt, aber nicht wegen des Wasserpreises, sondern, weil er sich dann ein klein Wenig belebter fühlte, zumindest für einen Augenblick.
Als er dann tropfnass aus der Dusche stieg, rutschte er beinahe aus. Er hatte noch nicht die Zeit gefunden, die Badezimmerteppiche aus den Kartons heraus zu suchen. Schnell schnappte er sich ein Handtuch und rieb seinen Körper wieder trocken. Dann glitt sein Blick erneut zum Spiegel. Einige weiße Haare blitzten wie Warnsignale aus dem dunklen Schwarz hervor. Resigniert seufzte er. Dabei war er erst knapp über vierzig.

So schlecht sah er eigentlich gar nicht aus. Seine Freunde hatten ihn am Tag seiner Scheidung aufgefordert, mit ihnen feiern zu gehen. Er war der Erste in diesem Kreis gewesen, der geheiratet hatte. Sie hatten gemeint, er wäre nun endlich wieder frei, nach zweiundzwanzig Ehejahren und solle sich eine Neue suchen. Doch er wollte gar nicht frei sein. Er hatte immer nur SIE geliebt, immer nur SIE gewollt und keine der vielen Anderen. Ihre Beziehung war so wundervoll, so glücklich gewesen, doch irgendwie hatte er SIE vor einiger Zeit aus den Augen verloren. Vor drei Jahren war er zum Firmenchef einer Elektrofirma erhoben worden und hatte sich mit Herzblut in seine Arbeit gestürzt.
Vielleicht hatte er SIE dabei vergessen. Aber SIE hätte doch nur etwas sagen müssen. Wahrscheinlich war das der Fall gewesen und er hatte es einfach nicht mitbekommen oder es nicht ernst genommen.
Ihre Ehe war kläglich gescheitert. Er war nur noch für seine Arbeit da gewesen, auch die letzten Wochen hatte er sich voll und ganz in seine Pflichten als Firmenchef gestürzt.

Vom Badezimmer aus betrat er das angrenzende Wohnzimmer. Die Ledercouch, welche seine Frau ihm zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte, lud ihn ein, sich zu setzen. Ein umgedrehter Bierkasten diente als kleiner Beistelltisch. Sein Blick glitt nach rechts zum offenen Kleiderschrank. Dort hingen seine Anzüge: nach Farben geordnet und frisch gebügelt. Dann blieben seine Augen an der Wanduhr hängen: 05:10Uhr.
Eigentlich wäre er jetzt bereits in der Innenstadt an seinem Schreibtisch, doch nicht einmal die Arbeit war ihm in seinem Leben geblieben. Der Gewerkschaftschef – ein guter Freund – hatte ihm dringend geraten, Urlaub zu nehmen und sich auszuruhen. Er solle den Urlaub und seine Freiheit von der Verantwortung für ein paar Tage genießen. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dann besann er sich wieder. Er wollte keine Freiheit, er wollte sein Leben zurück.

Dann glitt seine Hand zur Zigarettenverpackung auf dem Tisch und seine andere zündete eine der weiß-braunen Stummel an. Er zog einmal kurz daran, dann drückte er sie energisch im Aschenbecher aus.
Eigentlich rauchte er nicht. Es schmeckte einfach nur widerlich.
Um sich abzulenken, schaltete er den Fernseher ein. Es lief eine Werbesendung über Haushaltswaren. Er zappte weiter durch die Kanäle, dann hielt er inne. Eine Wiederholung der Nachmittagssendungen über Beziehungsdramen und andere Machenschaften böser und guter Menschen lief über den Bildschirm des Fernsehers. Eine junge Frau bat einen Mann, sie loszulassen, weil sie frei sein wollte.

Voller Wut nahm er die Fernbedienung und schleuderte sie gegen das Gerät. Dann ließ er seinen Kopf in die Handflächen sinken und Tränen traten aus seinen Augenwinkeln, bahnten sich den Weg über seine Handgelenke und tropften lautlos zu Boden.
Er wollte kein Firmenchef sein. Er wollte nicht viel Geld verdienen. Er wollte keinen Urlaub oder Verantwortung abgeben. Er wollte auch keine anderen Frauen. Er wollte SIE. Aber SIE war das Einzige, was er vermutlich nie mehr zurückbekommen würde. Dabei war es gerade SIE, die er zum Leben brauchte. Ohne SIE fühlte er sich so allein; gefangen in der Leere seiner Einsamkeit.

Mit diesen Gedanken löste er die Hände von seinem Gesicht, lehnte sich zurück und zündete eine weitere Zigarette an.