Chaosbringer - Zuhause

Dein Blick hebt sich. Direkt zum Himmel empor. Du siehst genau in die Sonne und trotz der getönten Brille brennt das Licht in deinen Augen. Obwohl es bereits Oktober ist, zeigt sich der wechselhafte Herbst heute von seiner wohl schönsten Seite. Golden strahlt die Abendsonne vom wolkenlosen Himmel hinab, schickt ihre Strahlen tanzend über die ordentlich gepflegte Grünanlage. Die fast leeren Kronen einiger Bäume wiegen sich leicht im Wind, als eine kurze Brise über dir hinwegzieht. Einige Blätter sinken langsam dem Boden entgegen, bis sie dort liegen bleiben.

 

Ihre Schatten tauchen auf und verschwinden, nur einen Augenblick später. Das welke Laub scheint so seltsam deplatziert auf dem kurz gehaltenen Rasen, doch das ist der Lauf der Dinge. Zögernd machst du einen Schritt nach vorn und streckst deine Hand aus. Sie zittert. Kühler, glatter Stein berührt deine Haut. Vorsichtig, als könntest du ihn ansonsten brechen lassen, streichst du darüber. Eine beklemmende Taubheit in deinem Brustkorb lässt dich schlucken. Als würde sich eine Hand um dein Herz legen und sich nur sachte, aber dennoch kontinuierlich schließen. Dieses Loch, das du behelfsmäßig verschlossen hast, nein, dieser tiefe Abgrund – er reißt mit einem Mal wieder auf. Zieht dich hinunter in diese eisige, kalte Leere. Einsamkeit, ein Gefühl, das mittlerweile dein stetiger Begleiter ist. Es eigentlich schon immer war, wenn du ehrlich zu dir bist. Und doch fühlst du es noch immer. Als würde deine gesamte Existenz aus Schmerz und Trauer bestehen. 

 

„Du bist hier“, hörst du eine Stimme, die dich aus deiner Starre holt. Dich zusammenzucken und die Wellen eines tiefen Schuldbewusstseins über dir hinwegdonnern lässt. Bis sie direkt auf dich niedergehen – dein Herz zum Stolpern bringen, bevor es unsicher weiterschlägt. Deine andere Hand fährt instinktiv hinauf zu deinem Brustkorb. Jemand tritt neben dich, du siehst seinen Schatten neben dem deinen. Unsicher wagst du einen Seitenblick. Ein junger Mann, etwa Ende zwanzig, steht fast Schulter an Schulter mit dir, die trüben, grünen Augen auf die Gravur des Steins gerichtet. Dein Blick schweift ebenfalls darüber. Kiras Name, zwei Datumsangaben und der Schriftzug Geliebte Mutter und Freundin. Du unterdrückst ein leises Keuchen. Das Atmen fällt dir zunehmend schwerer, während der Druck in deiner Brust nicht weicht, sondern sich weiter schleichend verstärkt. Dein Instinkt sagt dir, schreit dich fast an, du solltest einfach verschwinden, fort, weit weg von hier. Irgendwohin, wo dich dieser Schmerz nicht mehr einholen kann. Doch du weißt genau, dass es einen solchen Ort nicht gibt. Nirgendwo auf dieser Welt.

„Es ist jetzt genau ein Jahr her“, spricht diese Stimme weiter. Du nickst leicht, unfähig, etwas dazu zu sagen. Das ist dir doch bewusst. Das weißt du. Deshalb bist du heute hier, an diesem trostlosen Ort. Ein Jahr – eine eigentlich kurze und dennoch unendlich scheinende Zeitspanne. Ihr steht schweigend nebeneinander. Deine innere Unruhe hat sich mittlerweile ein wenig gelegt, dich durchatmen lassen.

 

„Weißt du, sie hat dich geliebt. Sie hat dich immer geliebt, nie jemand anderen.“ Du presst deine Kiefer fest aufeinander, so sehr, dass sie zu schmerzen beginnen. Deine Augen brennen. Ein schmales, nasses Rinnsal bahnt sich über deine Wangen hinweg einen Weg hinab zu deinem Kinn. Dort sammelt es sich und fällt in wenigen, glitzernden Tropfen dem Boden entgegen. Du schmeckst einen Teil davon, der zögernd deine Mundwinkel passiert. Salzig, es sind Tränen. Du hast in deinem Leben nicht wirklich oft weinen müssen, aber wenige Male hast du es getan. Eine der Schwächen, die dich, wie Kira immer angemerkt hatte, irgendwie menschlich machen. Heute, in diesem Moment, hasst du diesen Teil von dir. Er hat dich dazu gebracht, ihrem Rat zu folgen. Dich in den letzten Jahren von ihr fernzuhalten. 

Stephen war offiziell vor Langem verstorben. Als es nicht mehr ausreichte, dir einen Bart wachsen zu lassen, damit du älter wirkst. Die Leute hatten begonnen, Fragen zu stellen und letztendlich hatten Kira und du sich darauf geeinigt, getrennte Wege zu gehen. Alle paar Monate konntet ihr euch treffen – jedes Mal hatte sie schwächer ausgesehen. Sie war krank gewesen, schleichend hatte sich der Krebs einen Weg zurück gesucht, nach so langer Zeit. Du wolltest für sie da sein, doch das hatte sie vehement abgelehnt. So solltest du sie nicht in Erinnerung behalten, hatte sie dir in eurem letzten Gespräch gesagt. Drei Wochen darauf war sie verstorben, friedlich im Schlaf, wie du später erfahren hast. Du wusstest, wann ihre Beerdigung stattfand, dennoch bist du nicht erschienen. Du konntest es einfach nicht. Es fühlte sich nicht richtig an. Du hat sie im Stich gelassen, als sie jemanden an ihrer Seite gebraucht hätte. 

Im vergangenen Jahr hast du alles getan, um nicht mehr an sie zu denken. Warst an entlegene Orte gereist, immer unterwegs, keine zwei Tage auf dem gleichen Fleckchen Erde. Du hast so viele Menschen kennengelernt, so viele Städte, kleine Siedlungen und sowohl wunderschöne, als auch grauenerweckende Plätze gesehen. Und dennoch hat dein Weg dich hierher zurückgeführt. An den Ort, wo damals alles begonnen hatte. Eine Stadt mit Menschen, die du nicht vergessen könntest, selbst, wenn du es wolltest – die lebenden und die toten.

 

„Samira und ich sind jetzt verheiratet. Vor zwei Wochen haben wir eine kleine Tochter bekommen. Wir haben sie Kira genannt, einfach nur Kira.“ Du kannst das traurige Lächeln auf dem dir so bekannten Gesicht erkennen, dann wendest du deinen Blick wieder geradeaus. Über den glatten Stein hinweg, auf irgendeinen leeren Punkt dahinter gerichtet.

„Das freut mich für euch“, bringst du mit brüchiger, fast zitternder Stimme hervor. Genau das hatte sie immer gesagt, wenn sie sich jemandem vorstellte: „Mein Name ist Kira. Einfach nur Kira.“ Dein Blick verschwimmt, als du ein leises Schluchzen nicht unterdrücken kannst. In einer ungenauen, fahrigen Bewegung nimmst du dir die Sonnenbrille ab. Erneut fließt ein dünnes Rinnsal aus Tränen dein Gesicht hinab. Eine kräftigere Brise streicht darüber – kalt, so kalt, dass die Tränen auf deiner Haut zu gefrieren scheinen. 

„Ich werde gehen“, flüsterst du leise, nur ein kaum hörbares Raunen, das fast im Rascheln der letzten Blätter über euch untergeht. Schweigen, doch dieses Mal nicht ganz so lange wie zuvor.

„Wie lange wirst du dieses Mal weg sein?“ Die Trauer in seiner Stimme versetzt dir einen herben Stich. Fast klammern sich die folgenden Worte an deine Zunge, als wollten sie mit aller Macht verhindern, ausgesprochen zu werden: „Dieses Mal für immer.“ Du spürst eine Berührung an deiner Schulter. Eine Hand hat sich darauf gelegt. Langsam drehst du dich um, hast dich ihm kaum zur Hälfte zugewendet, da umgibt dich plötzlich Wärme. Zwei Arme legen sich um deinen Hals, drücken dich fest an den Mantel aus grauem Filz. Du zögerst nicht, sondern erwiderst die Umarmung. Ein letztes Mal.

„Ich werde dich vermissen, Stephen.“ Seine Worte waren nur kaum verständliches Gemurmel und trotz der tiefen Trauer in deinem Herzen schleicht sich dir ein Lächeln auf die Lippen. „Ich dich auch, Jimmy. Ich dich auch. Pass gut auf deine Familie auf, Kleiner.“ Ihr löst euch wieder voneinander und du hauchst ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor du zurücktrittst und dem Grab deiner einstigen Liebe den Rücken zuwendest. Du wirst nie wieder zurückkehren, das ist dir bewusst. Doch ohne Kira hast du nichts mehr, das dich an diese Welt bindet. Es ist Zeit, sich zu verabschieden. Zu gehen und nie wieder zurückzukommen. Du atmest zitternd ein, während der Kies des Gehwegs unter deinen Schuhsohlen leise knirscht.

 

…………………………

 

Die Sonne neigt sich allmählich dem Horizont zu, als du deinen Wagen am Straßenrand halten lässt und dort aussteigst. Dein Blick schweift den hohen Zaun empor. Hinüber zu dem alten Gebäude vor dir. Mit einer raschen Handbewegung ziehst du das Vorhängeschloss zu dir. Die einzelnen Kettenglieder reißen auf und mit leisem Klirren lässt du sie auf den Boden fallen. Deine Schritte erklingen dumpf auf dem Betonpflaster, das sich über die gesamte Außenanlage zieht. Hier und da haben es einige dünne Pflanzenstängel geschafft, aus den Zwischenräumen hervorzubrechen. Die Natur findet immer einen Ausweg. Die Mauersteine, aus denen der größte Teil des Gebäudes besteht, besitzen an einer Seite einen lichten Moosteppich, der sich zögernd der Länge nach über die Fassade zieht.

Mit einem leichten, metallischen Ächzen lässt sich eine der Türen seitlich aufschieben und du trittst hindurch. Die große Halle ist leer. Natürlich, darauf hast du bei deiner Auswahl geachtet. Das Gelände liegt weit abseits der Stadt in einem längst stillgelegten Industriegebiet. Kein Mensch weit und breit, der perfekte Ort. Ruhig, einsam und… irgendwie friedlich. Einmal siehst du dich noch um. Durch die verdreckten, teils bereits zerstörten Oberlichter hindurch kannst du sehen, dass das Licht der Sonne langsam abnimmt. Ein sanftes, warmes Rot scheint herein und erhellt einen Teil der Halle. Du gehst hinüber zu einem Punkt, an dem Schatten und Licht aufeinandertreffen, dann lässt du dich dort auf den Boden sinken. Kniend, reuevoll und ergeben.

 

Leise rufst du in die Tiefen deiner Seele hinein. Allmählich regt sich das Dunkle dort unten. Es steigt empor, über die Oberfläche deines Bewusstseins hinweg und umgibt dich wie ein Strom aus warmen Wellen. Hüllt dich ein, als wolle es dir Kraft geben. Kraft, Mut und eine Art von Hoffnung. Du atmest bedacht tief ein und aus. Dein Herzschlag verlangsamt sich, stockt erst, bis er letztendlich verstummt. Der letzte Atemzug, ein letztes, seichtes Hauchen, dann lässt du die Barrieren fallen. Ähnlich wie bei einem Staudamm, der krachend in sich zusammenfällt, bricht diese finstere Macht hervor. Die schwarzen Flammen schießen empor, doch dieses Mal grenzt du sie ein. Genau auf dieses Gebäude. Du spürst, wie sie alles um dich herum zerstören, wie sie alles verschlingen – hungrig und endgültig. Wie sie beginnen, an deinem Körper zu nagen, bis du sie gänzlich freilässt. Die Schmerzen betäuben deine Sinne, lassen deinen Geist verstummen, deine Gedanken in der Leere verhallen.

Ein leises Flüstern erreicht dich, bevor der letzte Funke deines Bewusstseins wie eine Kerzenflamme im Sturm vergeht: „Ich danke dir. Ich danke dir für alles.“

Kira? Dann umfängt dich ein Strudel aus verschiedenen Grautönen. Du wirst hineingesogen und ziellos herumgeschleudert. Dann endlich richtest du deinen Blick nach vorn und irgendwo am Ende dieses Tunnels erscheint ein Licht. Es leuchtet dir warm und einladend entgegen. Du zögerst nicht, streckst deine Hand aus und greifst danach. Einen Augenblick später verschwindet das Licht, nimmt die Grautöne mit sich und entlässt dich in eine Welt aus wirbelnden Farben.

 

Du ziehst zischend Luft zwischen den Zähnen ein, als dein Körper auf glücklicherweise weichen Boden niedergeht. Tatsächlich schlitterst du noch ein Stück weit, bis du die Bewegung abfangen kannst und halb aufgerichtet liegen bleibst. Du blinzelst ein paar Mal und die Konturen deiner Umgebung schärfen sich. Weiches Gras schmiegt sich an deine Handflächen, während du dich umsiehst. Dein Atem geht stockend, dein Herz hämmert so heftig gegen deinen Brustkorb, dass du erst einmal schlucken musst, um dich zu konzentrieren. Allmählich beruhigt sich dein Körper. Jeder Muskel in dir scheint zu schmerzen, als du dich erhebst und noch etwas unsicher auf den Beinen stehst. Ein leises Rascheln lässt dich aufmerksam werden. Die untergehende Sonne irgendwo am Himmel wirft deine Silhouette vor dir auf die Wiese – zwei halb ausgebreitete Schwingen bewegen sich leicht, als du die Muskulatur etwas dehnst, um die Spannung vergehen zu lassen. Du hattest fast schon vergessen, wie sich das anfühlt.

„Luzifer?“, verhallt eine Stimme über dir und noch bevor du dich ihr zuwenden kannst, landet eine eindrucksvolle Gestalt direkt vor dir. Die gewaltigen weißen Flügel schütteln sich kurz, ehe sie sich hinter die breiten Schultern zurückziehen. Die Federn scheinen das Licht der schwindenden Sonne in sich aufzunehmen und golden zu leuchten. Bevor du etwas sagen kannst, zieht dich die Gestalt an ihren breiten Brustkorb. 

„Das mit Kira tut mir leid, mein Bruder. Wirklich. Es tut mir so leid.“ Du nickst leicht, unsicher, ob er das überhaupt bemerkt. „Willkommen zuhause, Lichtbringer“, murmelt der Erzengel dir zu. Du lächelst nur müde. „Ich danke dir, Michael.“