Es war Nacht, Wolken verdeckten die Sterne. Es war finster. Ein leichter Wind zog sich durch das dichte Geäst der Bäume. Bis auf sein leises Säuseln war es still, beinahe schon zu still. Dann begann es langsam. Die ersten Tropfen fielen auf den trockenen Waldboden und während sich kleine Pfützen bildeten, meinte man zu hören, wie die Natur aufatmete. Es hatte lange nicht geregnet, zu lange. Die Wurzeln der Bäume streckten sich nach der lebenspendenden Flüssigkeit und sogen diese gierig in sich auf. Erste Insekten, kleinste Käfer und Ameisen, krochen unter dem Stapel Totholz am Wegesrand hervor. Der Erdboden hob sich an einigen Stellen und Regenwürmer kamen zum Vorschein, innerhalb von wenigen Minuten schien der einst vertrocknete Wald wieder zum Leben erwacht zu sein. Die Energie, welche selbst die kleinsten Organismen durchfloss, war deutlich zu spüren. Es war ein magischer Moment, einfach wunderschön.

 

 

 

Auf einmal wurde der Wind heftiger, die Bäume beugten sich unter der Wucht der durch alle Schichten des Waldes dringenden Böe. Einen Augenblick später hatte sich der kurze Sturm gelegt, nur eine leichte Brise ließ die Zweige der Bäume stets in Bewegung bleiben. Die Wolkendecke war zerrissen und das silberne Licht des zunehmenden Halbmondes ließ jeden kleinsten Wassertropfen schimmern und in jeder Pfütze spiegelte sich sein Ebenbild. Es schien, als würde es Diamanten auf den sonst kargen Erdboden der Taiga regnen.

 

 

Jedoch gab die öde Landschaft durch das schillernde Licht sein düsteres Geheimnis Preis. Denn Licht deckt auf, was die Dunkelheit stets verbirgt. Etwas abseits des Weges führten alte, mit Rost überzogene Bahnschienen entlang; eine längst in Vergessenheit geratene Strecke, welche einmal zwei mittlerweile verfallende Geisterstädte verbunden hatte. Seit 50 Jahren lebte keiner mehr in dieser Gegend und das hatte einen Grund. Hinter diesem müden Tal, das von drei Seiten durch Felswände begrenzt wurde, lag eine dunkle Vergangenheit.

 

Ging man an den alten Schienen entlang, versperrte nach einigen hundert Metern ein riesiger, umgestürzter Baum den Weg – eine kräftige Kiefer. Mittlerweile war dieser halb zerfallen und von Termiten zerfressen, doch auf diesen Gleisen hatte jeder Meter seine eigene Geschichte. Vor über 50 Jahren, an einem sonnigen Dienstag Morgen, nahm die Route von zwei Dampfloks seinen Lauf. Es war die Neueröffnung dieser Bahnstrecke nach über drei Jahren aufwendiger Restaurierung. Sie bestand aus zwei Gleisen, welche jeweils die eine Stadt mit der anderen verbanden. Auf den nebeneinander laufenden Schienen sollten zwei Loks auf den Weg geschickt werden, jede in eine Richtung. Die zwei Wagons, welche jede Maschine hinter sich her zog, waren bis auf die letzten Stehplätze vollkommen ausgebucht. Über dreihunderttausend Anwohner der Stadt und Schaulustige wurden erwartet. Dass dieser Tag zu einem der größten Desaster der regionalen Geschichte werden sollte, ahnte niemand.

 

Beginnen wir also, lassen wir die Vergangenheit noch einmal zum Leben erwachen:

 

 

 

,,Zurücktreten bitte!''

 

Die Menschenmenge, welche sich vor dem großen Backsteingebäude eingefunden hatte, verstummte plötzlich. Ein kleiner älterer Herr schob sich, begleitet von zwei Personen in gelben Uniformen, durch die Wand von bunt gekleideten Menschen, welche sich ihm entgegen drängte. ,,Macht Platz für den Bürgermeister!'', ertönte die laute, von militärischem Ton geprägte Stimme. Die Menge bildete eine enge Gasse, durch die der kleine Herr unter das Steintor des Gebäudes gelangte. Noch einmal fuhr er sich kurz mit der Hand durch das von grauen Strähnen durchzogene Haar, dann nahm er die Schere, welche ihm gereicht wurde, entgegen und durchschnitt das rote Band vor sich. Die Menschen jubelten und klatschten, ihre Rufe hallten von den Wänden des Bahnhofs wider. Ein lauter, schriller Pfiff erklang und der Tumult um ihn herum wurde noch lauter.

Es hätte Erleichterung bringen müssen, dennoch fühlte er, dass etwas nicht stimmte. Im Kopf ging er den Ablauf des Tages noch einmal durch. Es war bisher alles so gekommen wie geplant. Trotzdem ließ ihn dieses schlechte Gefühl nicht los. Etwas beklemmt trat er durch den Torbogen und ließ die Menschen passieren. Wie ein Schwarm Forellen drängten sich die Leute ins Innere der Halle. Es waren mehr Menschen als erwartet, viel mehr.

 

In der Mitte des Gebäudes stand sie: der Stolz der ganzen Stadt, eine Lokomotive wie aus dem Bilderbuch, hinter sich zwei Wagons. Der Dampf quoll empor und das Pfeifen ertönte ein weiteres Mal. Durch die eng aneinander gedrängten, schwitzenden Körper schoben sich die über einhundert Leute, welche ein Ticket zur Mitfahrt erworben, erpresst oder gestohlen hatten, in Richtung des Gefährtes. ,,Alles verläuft nach Plan. Die Lok wird den Bahnhof in weniger als zehn Minuten verlassen'', hörte er einen der Uniformierten neben sich zu seinem Kollegen sagen.

 

 

 

Auch am anderen Bahnhof waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Ein bärtiger Mann sah auf seine Taschenuhr.

,,Wie lange noch?'', fragte der Junge, welcher bereits aufgeregt mit dem Ticket in der Hand herum wedelte, neben ihm.

,,Es sind nur noch wenige Minuten, mein Sohn.''

Während sie sich durch die Menge kämpften, erhaschten sie einen kurzen Blick auf die imposante Lokomotive, welche den Wagen, in den sie steigen würden, zog. Als sie bei den Türen angekommen waren, reichten sie dem Schaffner ihre Tickets. Sie waren spät gekommen und das wurde ihnen zum Verhängnis, denn alle Sitzplätze waren bereits belegt. Mit einem leichten Seufzen deutete er seinem Kind, sich an der Stange neben ihm festzuhalten. Nach einer unendlich scheinenden Wartezeit erklang das dritte Pfeifen, die Türen wurden geschlossen und mit einem gewaltigen Ruck setzte sich die Lok ächzend und stöhnend in Bewegung.

 

 

Während die Maschinen ihre Arbeit taten und sich auf ihren Weg begaben, betraten zwei Männer die Gleise, etwa in der Mitte der Strecke.

,,Bist du dir sicher, dass wir das tun sollten?'' - ,,Wir werden hierfür gut bezahlt, also lass deine dummen Fragen endlich.'' Er legte den Koffer, welchen er mit sich getragen hatte, auf den Boden und klappte ihn auf. Eine schwere Axt lag im Inneren.

,,Du weißt, was du zu tun hast. Und enttäusche mich bloß nicht, Kleiner.'' Der Jüngere der Beiden schluckte hörbar und streckte die Hand aus. Seine Handfläche schmiegte sich an den hölzernen Griff, er hob die Axt aus dem Koffer und strich leicht mit den Fingerspitzen der anderen Hand über das kalte, glanzlose Metall. Dann drehte er sich um und sah seinen Mitstreiter an, Ungewissheit in den Augen, Unsicherheit und Angst.

,,Wenn du dein Geld willst, tu es endlich und dann lass uns von hier verschwinden.'' Langsam setzte er sich in Bewegung. Wenige Sekunden später waren Geräusche von berstendem Holz zu hören. Pfeifen erklang, kam immer näher, von beiden Seiten, genau so das schleifende Geräusch von Metall auf Metall. Mit quietschenden Reifen fuhr der Jeep davon. Der Baum knickte, schlug dann mit dumpfem Knall auf den Gleisen auf. Das Ächzen des Holzes schien wie der Klageruf einer verlorenen Seele, das Stöhnen der Toten, der zukünftig Toten.

 

 

Unruhe breitete sich im ersten Wagon aus, Menschen schoben sich aneinander vorbei, drängten sich um die Fenster.

,,Papa, wir werden sterben!'' Der kleine Junge klammerte sich an das Bein des bärtigen Mannes, welcher sich gerade mit einer älteren Dame über ein Kochrezept für Rhabarber - Eintopf ausgetauscht hatte und seine Frau liebte Rhabarber. Irritiert wandte er sich zu seinem Sohn um. ,,Was ist denn los?'' - ,,Wir stoßen zusammen, auf den Gleisen liegt eine riesige Kiefer!'', erklang die Stimme eines jungen Herrn, dessen eindeutig zu große Uniform ihn als Schaffner auszeichnete.

Schreie von Frauen und Kindern wurden laut, alle drängten sich zu den Türen, doch die waren fest verschlossen.

,,Das Schloss klemmt!'', rief jemand aus.

,,Ja, gibt es denn keinen anderen Weg hinaus?'', hob sich eine weitere Stimme aus der Menge hervor. Der Mann sah in die von Panik geweiteten Augen seines Sohnes.

 

 

In der zweiten Lok hatte sich ebenfalls bereits die Panik verbreitet. Heiße Kohle wurde aus dem Ofen gescheffelt und nach draußen geworfen, um die Geschwindigkeit des Zuges zu verringern. Wasser aus mitgebrachten Flaschen wurde über die Glut geschüttet. Jedoch, es war bereits zu spät. Das Pfeifen aus nicht allzu großer Entfernung ließ Schlimmes vermuten. Es gab kein Entrinnen. In ihrer Panik kamen die Menschen nicht auf die Idee, die Türen zu überprüfen. Jeder stand dicht gedrängt am Körper des anderen. Viele trösteten sich gegenseitig, ein Pfarrer betete laut: ,,...Herr, gib uns Hoffnung. Herr, verlasse uns nicht. Amen.''

 

Die Loks rasten aufeinander zu. Dann trafen sie fast gleichzeitig auf den Baumstamm, welcher die Gleise blockierte. Einen Moment lang war es still. Plötzlich folgte ein ohrenbetäubender Knall, Holz splitterte, die Loks wurden von den Schienen geschleudert und beide Züge kippten auf die Seite, nahmen mehrere Bäume mit sich. Noch hunderte Meter schleifte die Trägheit sie weiter durch den Wald. Die Wagons waren vollkommen zerstört. Die heiße Glut begann, den spärlichen Rasen und die Sträucher qualmen zu lassen. Dann loderte eine kleine Flamme auf und binnen weniger Sekunden breitete das Feuer sich aus, hielt dabei auf die Wagons zu. Das Holz der Wagen fing sofort Feuer. Einige erstickte Schreie waren noch zu hören. Hier und da ein verzweifelter Hilferuf. Nach wenigen Minuten hatte das Feuer bereits jegliches Leben ausgeräuchert.

 

 

300 Menschen waren durch den Aufprall oder in den Flammen verstorben. Es gab keine Überlebenden. Viele der Leichen waren so stark verbrannt, dass sie nicht einmal möglich gewesen war, sie zu identifizieren, somit wurden die Gebeine wenige Tage später dem Friedhof, welcher an der Unglücksstelle errichtet worden war, beigesetzt. Die größtenteils zugewachsenen und vermoderten Holzkreuze, welche den Boden als Erinnerung noch säumten, waren ein Zeichen dafür, dass dies alles bereits in Vergessenheit geraten war. Die Bewohner der Städte hatten die Gegend nach dem Unglück verlassen. Die Leute waren von einer natürlichen Ursache ausgegangen, keiner hatte überlebt. Auch sprach niemand darüber. Es war ein dunkles Kapitel im Leben der Angehörigen. Viele waren bereits alt und würden und wenigen Jahren nicht mehr am Leben sein. Das Unglück war nie öffentlich dokumentiert worden. Somit wird dieses Geheimnis mit ihnen begraben.

Das schimmernde Licht des Mondes ließ die Konturen eines verbeulten Metallmantels aufleuchten und eine Gravur an der Seite der Maschine war für wenige Sekundenbruchteile zu erkennen: ,,The Forgotten'' - ,,Die Vergessenen''. Die Loks entstammten der Zeit der Industrialisierung und waren mit die Ersten ihrer Art gewesen. Nach der Restaurierung hatte man ihnen beiden den Namen ,,The Forgotten'' gegeben, als wäre ihr Schicksal vorbestimmt gewesen.

 

Das Licht wurde langsam schwächer und verschwand schließlich. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen. Auch das Plätschern des Regens verstummte allmählich. Nur das leise, flüsternde Säuseln des Windes, welcher die Geschichte dieses Tals stumm nachzuerzählen schien, war noch zu hören.